Als am 2. April 1911 ein knapp 25jähriger, theologisch durchaus liberal gesinnter Hilfsprediger von Genf her zu einer Probepredigt nach Safenwil anreiste, haben die dortigen Dorfbewohner schwerlich geahnt, was im folgenden Jahrzehnt auf sie zukommen würde. Sie haben ihn jedenfalls zu ihrem Pfarrer gewählt: den jungen Mann namens Karl Barth. Was er dann in seiner Antrittspredigt am 9. Juli 1911 sagte, war freilich wie eine Überschrift über das Folgende: «dass ich Euch nicht von Gott rede, weil ich einmal Pfarrer bin, sondern dass ich Pfarrer bin, weil ich von Gott reden muss. Einer seiner Kirchenpflegepräsidenten berichtete später, wie Barth eine Zeitlang bei ihm zu essen pflegte. Sonntag sei er dann stumm und bleich in die Stube gestürmt gekommen, habe eine Tasse ergriffen, sei mit ihr um den Tisch gehastet, habe sie dann wieder ungeleert auf den Tisch gestellt und sei dann davongelaufen- alles, weil seine Gedanken so von der bevorstehenden Predigt gebannt waren. Es brannte ein Feuer in ihm. Und es war wohl eine blosse, aber sinnvolle Legende, wenn im Dorf das Gerücht umging, es sei einmal, kurz nachdem er seinen Platz verlassen hatte, in seinen Schreibtisch durchs offene Fenster geradezu ein Blitz eingeschlagen.
Das Herz von Barths Safenwiler Tätigkeit war gewiss seine Predigt. Er hat dort auch manches andere getan, Unterricht erteilt, Seelsorge getrieben, war Präsident des Blaukreuzes, eines Chores und der Schulpflege ( als welcher er sich um die Einführung des Turnens für Mädchen verdient machte!) Aber, das Herz seines Tuns war die Predigt. Rund 500 Predigten hat er hier gehalten, oft «als entsetzliche Notgeburt» hervorgebracht, jede minutiös schriftlich vorbereitet, aber dann jeweils frei vorgetragen. Was ihm dann in diesen Jahren an grundlegend neuer theologischer Erkenntnis aufging, hatte nach eigenem Zeugnis seine Wurzel gerade hier: in der Predigt. Die » Situation des Pfarrers am Samstag an seinem Schreibtisch, am Sonntag auf der Kanzel verdichtete sich mir zu einer Randbemerkung zu aller Theologie».
Es war freilich ein langer, harter, schwerer Weg, bis Barth zu solch grundlegend neuer theologischer Einsicht kam. Die liberale Theologie, auf die er sich im Gegensatz zu seinem Vater, dem Berner Theologieprofessor Fritz Barth, begeistert eingelassen hatte, wurde ihm in Safenwil bald zunächst uninteressant – angesichts «der wirklichen Problematik des wirklichen Lebens», auf die er in dem Arbeiterdorf stiess. Er solidarisierte sich sogleich mit der bedrängten Arbeiterschaft am Ort und suchte ihr mit theoretischer Belehrung und praktischer Unterstützung zu helfen, sich ihrer Haut zu wehren. Der Vortrag vom Dezember 1911 » Jesus Christus und die Sozialdemokratie», in dem er eine enge Verbindung zwischen Jesus und dem Sozialismus darstellte, brachte den Beginn von allerlei Unruhen, durch die er weitum als der «rote Pfarrer von Safenwil» verpönt wurde, während die Arbeiter ihn hinfort als «Genosse Pfarrer» titulierten. Als solcher wurde er 1915 sozialdemokratisches Parteimitglied und half 1917 mit bei Streiks und bei der Organisation von Gewerkschaften. Daraufhin setzte im Dorf eine kleine Kirchenaustrittsbewegung ein.
Er war allerdings nicht der einzige Pfarrer, der solche Richtung einschlug. Es gab damals unter den Schweizer Pfarrern die Bewegung des » Religiösen Sozialismus». Durch seinen guten Freund Eduard Thurneysen, seinerzeit Pfarrer in Leutwil, mit dem er einen höchst intensiven Verkehr pflegte, kam er in Kontakt mit den Führern dieser Bewegung: Hermann Kutter und Leonhard Ragaz. Der Ausbruch des 1. Weltkriegs erschütterte ihn tief und machte ihn vollends irre an der liberalen Theologie seiner Lehrer, aber auch am Sozialismus, der auf die Kriegsfronten einschwenkte. In dieser Verlegenheit wurde ihm die Botschaft Christoph Blumhardts, dessen Hoffnung auf das «Reich Gottes» als eine Grösse jenseits alles von Menschen Machbaren, wegweisend. Im April 1915 suchte er ihn im schwäbischen Bad Boll auf. Von da an begann bei Barth ein neues, grimmiges Suchen, das ihn hart an den Rand der Kirche brachte. Es war eine Zeit, in der er «wie eine Hummel gegen all die verschlossenen Fenster angerannt» ist.
Seine Suche verdichtete sich zum Entschluss, den Römerbrief des Apostels Paulus auszulegen. Er schrieb daran – unter einem Apfelbaum im Garten oder in einem Estrichzimmer des Pfarrhauses – vom Sommer 1916 bis Sommer 1918. «Umwertung aller Werte» lautete darin eine Überschrift, und in Kritik an allen individuellen Einzelvorstössen und Standpunkten wurde darin das Göttliche als eine schlechthin neue » Schöpfung eines neuen Kosmos» beschrieben. Nachdem sein Vortrag im September 1919 im thüringischen Tambach ihn in Deutschland bekannt gemacht hatte, wurde er selbst freilich unzufrieden mit seinem «Römerbrief». Vom Herbst 1920 bis Sommer 1921 schrieb er ihn noch einmal neu. Hier griff er nun noch viel radikaler alle theologisch-kirchlichen Richtungen seiner Zeit an und rief zu einer radikalen Neubesinnung, zu einer Neuentdeckung » Gottes» auf. Christlicher Glaube ist nicht «Religion», hiess es dort; denn die ist immer nur eine Möglichkeit des Menschen. Gott» ist und bleibt immer der ganz andere», die Krisis alles, auch und gerade des religiösen Habens. Und Glaube ist hingegen » Hohlraum», der als solcher hinweist auf den «ganz anderen Gott».
Dieses Buch machte Barth weltbekannt. Für ihn selbst war es indes nur der Anfang einer theologisch-kirchlichen Neubesinnung, der er in den nun folgenden 40 Jahren als Theologe seine ganze Kraft widmete. Als das Buch erschien, wohnte er freilich nicht mehr in Safenwil. Er war mit seiner Frau Nelly geb. Hoffmann, die er 1913 geheiratet hatte, und mit seinen Kindern Franziska, Markus, Christoph und Mathias, die in Safenwil geboren worden waren, unterdes nach Göttingen gezogen, wohin er auf einen theologischen Lehrstuhl berufen worden war. Am 9. Oktober 1921 hielt er in der Safenwiler Kirche, die wegen eines «Sauschiesset» ziemlich leer war, seine Abschiedspredigt – über den Text: «Alles Fleisch ist wie Gras…, das Gras verdorrt, aber des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit».
Eberhard Busch
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